Das letzte Blatt
Der Maler hatte die Kleine im gegenüberliegenden Haus nun schon tausendmal beobachtet, ihre blonden Haare auf dem geblümten Kopfkissen, ihre roten Wangen, die mit den Monaten aber immer blasser geworden waren, und ihre Augen. Diese Augen, die ohne Worte mit ihm sprachen.
Dass das Mädchen krank war, war ihm schnell klar geworden, und deshalb schickte er als Gruß von einem Unbekannten hin und wieder ein Bild zur Aufmunterung vorbei.
Eines Morgens entdeckte der Maler einen Brief, geheftet an die Fensterscheibe des Krankenzimmers, und mit dem Fernrohr konnte er lesen: „Wann bekomme ich denn das Herbstblatt?“
Der Maler stellte sich an seine Staffelei, kramte in seinem Gedächtnis das prächtigste Herbstblatt hervor, an das er sich erinnern konnte, ein buntes, braun-grünliches kanadisches Ahornblatt. Dazu malte er eine schwarz-weiß metallisch glänzende Elster, die es im Schnabel hatte und zu ihr hinübertrug.
Am nächsten Tag schon ließ das Mädchen per Briefluftpost an der Fensterscheibe anfragen: „Hast Du noch ein anderes Blatt?“
Na, dachte der Maler, die ist ja ganz versessen auf Blätter, malte einen Baum mit bunten Eichenblättern, die sich gegen den Wind wehrten, und ließ das Blatt zum Mädchen bringen.
Doch am nächsten Morgen hing am Fenster ein weißes Blatt Papier, darauf nur ein Kreuz, als sei etwas Schreckliches geschehen. Dem Maler schoss das Blut in den Kopf, als fühle er sich ertappt, verließ noch vor dem Frühstück das Haus, schellte gegenüber und bat das Mädchen zu sprechen.
Die Mutter sagte: „Ach, Sie sind der Freund von Juliane?“
„Juliane? Ihre Tochter ist krank?“
„Leukämie“, erklärte die Mutter, „und sie wird es nur schaffen, wenn sie die Hoffnung nicht verliert.“
„Die Hoffnung“, dachte der Maler, als er vor Juliane stand, diesem Mädchen, das dort so blass im Kissen lag, mit den dunklen Augen, die er so oft mit dem Fernrohr gesucht hatte. Er setzte sich an das Bett, überblickte ihr Zimmer, und trotz des Schmerzes, den er mit Juliane fühlte, freute er sich auch ein bisschen. Die Wand war nämlich tapeziert mit seinen Bildern, mit all seinen Bildern. Auf dem ersten stand mit seiner Handschrift: „Bild eines Unbekannten für das blonde Mädchen von gegenüber“. Das war vor vier Monaten gewesen. Und ganz hinten in der obersten Reihe hing das gestrige Bild mit den vom Wind fast zerfetzten Eichenblättern, die sich mit letzter Kraft am Baum fest hielten.
„Hat das Kreuz mit meinem letzten Bild etwas zu tun?“, fragte der Maler, und Juliane nickte, und ihre dunklen Augen waren so, als würde sie losheulen müssen.
„Aber ich dachte, dir gefallen meine Blätterbilder?“, fragte der Maler, um sie abzulenken, und Juliane beteuerte, wie gut sie ihr gefielen.
„Aber das letzte gefällt dir nicht!“, sagte der Maler.
Und Juliane nickte, und dann erzählte sie, anfangs stockend, dass sie ungeheure Angst habe vor dem letzten Blatt. Und dass sie den Herbst fürchte und den November und dass der Wintersturm ihr Alpträume bereite, denn wenn das letzte Blatt vom Baum gefallen sei, dann müsse sie sterben.
„Aber das stimmt doch nicht“, wollte der Maler sie beruhigen.
„Ich weiß es besser“, sagte Juliane und blickte ihn mit ihren dunklen Augen so verzweifelt an, dass er nichts zu erwidern wusste.
„Ich habe nur noch eine kurze Zeit. Nur noch so viel Zeit, bis das letzte Blatt vom Baume fällt“, und sie zeigte auf die Buche vor ihrem Fenster, und sagte: „Es sind nur noch 17 Blätter am Baum.“
Und der Maler setzte in Gedanken den Satz fort. Der nächste Wind schon könnte ihre letzte Hoffnung begraben.
An diesem Tag saßen sie lange zusammen, und auch die nächsten Tage, bis es dem Maler immer schwerer fiel zu kommen; denn wenn er morgens aufwachte, zählte er zuerst die Blätter am Baum. „Heute noch vier!“, flüsterte er, und er wagte es kaum noch, zu Juliane zu gehen, so schwer fiel ihm der Gang. Und als er heute an ihre Tür anklopfte, empfing sie ihn mit entsetzten Augen und zeigte nach draußen: „Nur noch zwei!“, schluchzte sie, „zwei auf einmal, gerade vor ein paar Minuten!“.
Der Maler streichelte über ihr Haar und hätte am liebsten ihre Augen verdunkelt, damit sie die Hoffnung nicht verlöre; denn der Arzt hatte definitiv gesagt, Juliane würde es schaffen, wenn sie nur selbst wolle. Sie müsse an ihre Gesundung glauben.
Der Maler hörte auf die Blendläden, gegen die der Winterregen prasselte, und gleichzeitig dachte er an die Blätter, wie lange sie dem Wind und dem Regen trotzen könnten. Und Juliane in ihrem Bett hatte dieselben Gedanken. Sie hörte die Nachrichten, doch vor dem Wetterbericht war die Stromversorgung plötzlich unterbrochen, und als das Licht wieder da war, wusste sie, dass der Vater den Strom absichtlich unterbrochen hatte, damit sie nicht die Sturmwarnung hören sollte. Morgen würde ihr letzter Tag sein, morgen schon wäre der Baum kahl, die Äste nackt und steif, und Juliane stockte der Atem.
In der Nacht schlief sie schlecht, wachte auf, zog die Gardinen zurück, spähte zum Baum, und im blassen Licht der Straßenbeleuchtung ahnte sie, dass das letzte Blatt gefallen war. Sie vergrub sich in ihr Kissen, weinte bitterlich, dachte an den Frühling, doch schon stand der kahle Baum wieder vor ihr, auf dem Boden die zwei letzten Blätter, weggespült vom Regen in den Rinnstein der Straße. So lag sie wach und schlief erst spät ein, und deswegen auch war sie überrascht, als sie aufwachte, dass das Frühstück schon auf dem Tisch stand, vor dem Tisch die Mutter und der Maler, sie lachten, sie redeten über den nächtlichen Sturm und dass es nun aufwärts gehe, denn wenn der gestrige Sturm es nicht geschafft hatte, das letzte Blatt vom Baum zu fegen, dann würde es auch der bissigste Januarsturm nicht schaffen, denn die Wellen der Nordsee hatten Höchststände gehabt. Und die Mutter öffnete Zentimeter für Zentimeter die Gardine, und vor dem klaren Himmel, über den die Wolken schnell hinweghuschten, zeigte sich der Baum in seiner fast vergessenen Pracht: Ein Blatt noch, ein einziges, hing am Baum, ganz oben in der Krone, es schaukelte im Wind, als könne es jeden Augenblick das Gleichgewicht verlieren, aber das Blatt hielt, als ob es festgewachsen war mit dem Holz und dem Stiel. Und als der Sturm am Nachmittag noch einmal aufheulte, und als der Wind an den Fenstern rüttelte und durch die Ritzen des Fensters blies, da tanzte das Blatt, es krümmte sich, aber es fiel nicht.
Es fiel den ganzen Winter nicht, selbst Weihnachten unter Schnee fiel es nicht, sondern streckte sich gegen den Himmel, und jetzt merkte auch Juliane, dass sie es auch schaffen würde wie das Blatt. Und als sie im Frühjahr das erste Mal hinausgehen durfte, stand sie unter dem Baum mit dem Maler. Und es dauerte lange, bis sie in dem dichten frischen Blattwerk ihr altes braunes Winterblatt entdeckten, und da fiel es Juliane wie Schuppen von den Augen: Der Maler hatte ein Blatt der Hoffnung gemalt, es in Folie eingeschweißt und es in den Baum gehängt, und dort hängt es bis heute noch, schon drei Jahre vergangen, und nur noch zur Weihnachtszeit blickt Juliane in den Baum und schmunzelt.
Ein Gottessohn braucht keinen Lohn
Im Dorf gab es ein Kolonialwarengeschäft, und der kleine Lukas hatte sich die Nase schon tausendmal vor den Schaufensterscheiben platt gedrückt. So viele schöne Dinge gab es hier, und in seinem eigenen Haus nur Pfannkuchen mit Speck. Und wenn er an sich heruntersah, die schwarzen Stiefel bei Regen und die Holzschuhe mit Haferstroh beim Frost, dann grauste es ihm, und er träumte von einem goldenen Leben in einem Schloss in Berlin.
Die einzige Hoffnung setzte er auf den Pastor, der den Kindern in der Christenlehre von den BENEFICIEN Gottes erzählte, und wenn er – aber leider nur sehr, sehr selten – großzügig war, dann schenkte er Lukas einen Pfennig, mit dem er beim Kolonialwarenhändler ein Bonbon kaufen konnte.
Ein Bonbon war die Eintrittskarte in das kleine Paradies.
Und deshalb strengte er sich besonders an. Er sammelte viele Male Löwenzahn für des Pastors Kaninchen, aber trotz des üppigen Löwenzahns bekam er nur 3 Pfennige. Doch Lukas ließ den Mut nicht sinken; denn als die Eichelzeit kam, sammelte er mehrere Säckchen knackiger Eicheln für des Pastors Schweine, und der entlohnte ihn mit 4 Pfennigen, die er sofort im Kolonialwarengeschäft in 16 Salmiakpastillen umsetzte.
Dann sah Lukas die mächtigen Buchen im braunen Blättermeer, und als der Pastor in der Christenlehre davon sprach, dass alle Mädchen Gottestöchter und alle Jungen Gottessöhne seien, da spornte er sich noch mehr an und sammelte Bucheckern ganz weit in den Forsten. Und obwohl er sich noch mehr als bei der Eichelernte bemüht hatte, wurde das Säckchen einfach nicht voll, und als er am Abend den Beutel zum Pastor brachte, musste er mit einem einzigen Pfennig vorlieb nehmen.. Diesen nahm Lukas zwischen die Zähne und biss zu, ob der wohl echt sei; dann kaufte er im Kolonialwarengeschäft einen Bonbon, und dann sagte er sich angesichts dieser kurzen Gaumenfreude, ab jetzt werde ich dem Pastor keine Eicheln und keine Bucheckern mehr bringen.
Draußen regnete es, und als der 1. Advent kam, begann es zu schneien, und da des Pastors Dachschindeln auf seinem Hühner- und Schweinehaus morsch waren, konnte sich Lukas der Bitte des Pastors nicht entziehen, und er besserte das Hühnerdach aus und ersetzte die alten Schindeln.
Er war skeptisch und sah einer weiteren Enttäuschung entgegen. Je mehr er arbeitete, desto weniger Lohn bekam er für seine Anstrengung.
Und tatsächlich. Die Hände klamm und blau gefroren, das Gesicht rot und rissig und in den Haaren kleine gefrorene Wassertropfen – so stand er vor dem Pastor, der ihn anlächelte, ihm freundschaftlich auf die Schultern klopfte und ihm sagte:
„Lukas, ein Gottessohn braucht keinen Lohn.“
Da ging Lukas nach Hause, machte sich ein Kreuz in die rechte Hand und versprach sich selbst, nie mehr sich selbst untreu zu werden und dem Pastor nie wieder zu helfen.
Und der Advent ging dahin. Lukas machte einen großen Bogen um den Tannenwald. Dieses Mal würde er dem Pastor keine Tannenzweige bringen.
Und als er zwei Tage vor Heiligabend an des Pastors Hühnerstall vorbeiging, dessen Dach er für Gotteslohn repariert hatte, fiel er vor Staunen fast rücklings auf den Rücken. Dort hingen an einem Bindfaden zwei ausgenommene Hühner, damit sie abtropfen sollten.
Lukas rannte nach Hause, schrieb einen Zettel, holte sein Taschenmesser, rannte zurück so schnell, wie er noch nie gerannt war, schnitt die beiden Hühner ab, dann spießte er seinen Zettel auf einen Nagel und malte sich aus, wie des Pastors Miene aussehen würde.
Denn dort stand:
„Ein Gottesdiener braucht keine Hühner.“
Paul und die Taube Isabella
Diese Muttertaube muss nicht die hellste gewesen sein, ihr Nest in der Astgabel eines Eukalyptusbaumes zu bauen. Denn als das einzige Ei ausgebrütet und der Nachwuchs noch federlos war, hob der Atlantiksturm das Nest samt Taubenkind in die Luft. Und als die Böe vorbei war, fiel das Taubenkind unsanft auf den Boden vor die Füße von Paul. Die Taubeneltern standen ohne Haus da. Sie fanden das Kind nicht einmal, aber Paul nahm das Taubenkind in die Arme.
Paul nannte das Taubenkind Isabella. Mit einem Kieselstein zerstampfte Paul Sonnenblumenkerne auf dem Tisch, und stopfte den Brei mit den Fingern in den Schnabel. Weil aber Isabella den Brei noch nicht einmal schlucken konnte, stopfte Paul mit einem Stäbchen den Brei in den Schlund oder Speiseröhre und wartete.
Isabella überstand diese Operation, und einige Stunden später wiederholte Paul dasselbe, und als am nächsten Tag die Taube immer noch lebte, war Paul zuversichtlich, Isabella könnte es schaffen.
Aus dem ersten Flaum am Körper entstanden die feinen Spitzen der Feder, und nach einem weiteren Tag konnte Isabella sich schon auf den eigenen Beinen halten.
Und dann besuchte der Opa (das bin ich) mit Hanna und Oskar den Taubenretter Paul. Paul saß im freien Innenhof des Hauses, und Isabella saß auf seiner Schulter. Isabella sah noch nicht aus wie eine richtige spanische Taube, war aber lammfromm, rang noch ein wenig mit dem Gleichgewicht, indem sie mit den Flügeln flatterte, und konnte schon die Sonnenblumenkerne, ohne dass Paul sie vorher zermahlen musste, runterschlucken.
Hanna und Oskar waren begeistert. Und als Paul die Taube Isabella der Hanna auf die Schulter setzte, war sie freudetrunken und wanderte mit der Taube durch den Innenhof. Und Oskar hielt seine Hand wie einen Steg an Hannas Schulter, und dann stolzierte die Taube auf Oskars Arm. Das stundenlang, bis Isabella vor Müdigkeit die Augen schloss und einschlief.
Als Hanna und Oskar beim nächsten Mal die Taube besuchten, war sie schon gewaltig gewachsen. Sie hatte schon viele Federn, und wenn sie die Flügel bewegte, dann hob sie sich schon einen Meter vom Tisch in die Höhe, und ein paar Tage später flog sie schon allein im Innenhof herum, über dem nur der blaue Himmel von Spanien war. Immer wieder setzte sich Isabella auf den Arm, wenn die beiden ihre Hand ausstreckten.
Eines Tages stieg Isabella, die nun stolz auf dem Tisch oder der Mauer herumstolzierte, in die Lüfte, verließ den Innenhof, und Hanna dachte schon, sie würde nie wieder zurückkommen.
Paul, der Urlaub in El Palmar verbrachte, legte sich nach dem Mittagessen auf eine Liege, um die Siesta, den Mittagsschlaf, zu machen. Er schloss seine Augen, schlief ein und träumte, Isabella hätte ihn nun verlassen und nun mit den anderen Tauben ein Stelldichein in der Luft. Doch was für ein Wunder. Paul wurde aus dem Schlaf gerissen, weil Isabella ihn an seiner Nase pickte. „Wach auf, du Schlafmütze“, hätte sie gesagt, wenn sie hätte sprechen können. Paul holte Futter für Isabella, und Isabella verspeiste es und setzte sich mit vollem Magen auf die Liege und schlief ein. Eine Siesta für die Taube.
Das – es ist unglaublich – das machte die Taube nun jeden Tag. Morgens flog sie nach dem Frühstück irgendwohin, kam rechtzeitig zum Fressen und verlebte mit Paul die Siesta auf einer Liege im Innenhof.
Der Urlaub ging nach vier Wochen zu Ende. Paul fuhr nach Deutschland, und Pauls Eltern fütterten nun Isabella. Doch anscheinend war sie wohl ein wenig einsam geworden. Sie suchte einen Freund, und den fand sie in einem Spiegel, der an einer Mauer des Innenhofs hing. Isabella schaute oft in den Spiegel und pickte gegen das Spiegelglas, manchmal flog sie vor dem Spiegel auf und ab und tanzte dort wie eine Ballerina. Viele, viele Tage.
Doch eines Tages, als sie wieder zur Siesta mit großem Schwung in den Innenhof segelte und im Spiegel plötzlich eine Taube, wahrscheinlich den Freund, entdeckte, stürzte sie sich auf diese Taube, die sie ja selbst war, und brach sich das Genick.
Das war wirklich traurig.